Was war Jesus vor seiner "Menschwerdung"?

Das ist eine gute Frage, die auch recht oft gestellt wird. Der Begriff "Menschwerdung" beinhaltet ja, dass Jesus ein Mensch wurde, also zuvor etwas anderes gewesen sein muss.  Aber was? Was sagt uns die Bibel dazu, und was berichtet sie über die "Menschwerdung" des Herrn Jesus?

Nichts! Die Bibel berichtet davon gar nichts. Weder der Begriff "Menschwerdung", noch eine Beschreibung dessen kommen in der Bibel vor. Das einzig konkrete, was uns die Bibel über den Ursprung des Herrn Jesus Christus berichtet, ist, dass Jesus zuvor - und zwar von Anfang an - verheißen war, versprochen, angekündigt, eben "Wort" im Sinn von Wort, Rede, Prophezeiung. Und dass Gott zu seiner Zeit - "als die Zeit erfüllt war" (Gal 4,4) - sein Vorhaben in die Tat umsetzte: Durch Gottes Geist wurde Jesus, der Christus, in Maria gezeugt und dann auch von ihr geboren. Eine gewisse Abweichung hiervon könnte man in Joh 6 vermuten, wo der Herr Jesus mehrfach sagt, dass er das Brot sei, das aus dem Himmel herabgekommen ist oder so ähnlich auch in Joh 3,13. Dabei stellt sich durchaus die Frage, ob der Herr Jesus buchstäblich aus dem Himmel herabgekommen ist, wenn er doch nicht buchstäbliches Brot ist und auch niemand buchstäblich sein Fleisch gegessen und sein Blut getrunken hat, von dem es im selben Kapitel heißt. Was also berichtet die Bibel darüber, wie der Herr Jesus auf die Erde kam? Da gibt es nur die beiden Berichte von der Zeugung durch Gottes Geist in Maria, zu finden bei Matthäus und Lukas.

Der erste Satz im Neuen Testament lautet: 

Buch des Ursprungs Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams. (Mt 1,1)

Dann werden zunächst Jesu Vorfahren aufgezählt, um dann in Vers 18 fortzufahren:

Mit dem Ursprung Jesu Christi verhielt es sich aber so: Als nämlich Maria, seine Mutter, dem Josef verlobt war, wurde sie, ehe sie zusammengekommen waren, schwanger befunden von dem Heiligen Geist.

Im Lukas-Evangelium wird dasselbe Geschehen, nur mit anderen Worten beschrieben. Es findet sich jedoch kein anders lautender Bericht in der gesamten Bibel, keiner, der eine - wie auch immer geartete - Verwandlung eines Himmelswesens beschreiben würde, oder wie Jesus Christus sonst auf die Erde gekommen wäre. So gesehen also keine Menschwerdung, sondern eine ganz normale Geburt eines Menschen, abgesehen von der Zeugung.

Die Frage nach der "Menschwerdung" ist zugleich die Frage nach der Präexistenz Jesu. Dazu gibt es wohl etliche Bibelstellen, die dafür sprechen, aber auch etliche, die dagegen sprechen. Ich habe sie so gut ich konnte gesammelt und ein paar davon kommentiert (Link zum Artikel).

Beispielhaft seien hier zwei (zumindest scheinbar) widersprüchliche Aussagen genannt:

Gott sagte, dass Jesus der Nachkomme Abrahams sein würde, (Gal 3,16)
Jesus jedoch sagte, dass er vor Abraham ist. (Joh 8,58)

Vor oder nach Abraham?! Was gilt nun?

Ich selbst kann die Spannung zwar nicht komplett auflösen, neige aber deutlich dazu, Gottes Reden umfassend wörtlich zu nehmen, hingegen Jesu Reden nur in einem übertragenen, nicht wörtlichen Sinn (s. Joh 6). Somit ist meiner Ansicht nach Jesus tatsächlich der Nachkomme Abrahams, aber die Bibel redet sehr viel früher von Jesus als sie es von Abraham tut. In dieser Hinsicht ist Jesus vor Abraham.

Zugleich kann ich jeden verstehen, der es andersherum macht. Diese Ansicht ist weitaus verbreiteter. Dass Jesus vor Abraham im Himmel real existierte und quasi in einen Menschen verwandelt wurde, entspricht eher dem buchstäblichen Sinn der Worte Jesu als dem buchstäblichen Sinn der Worte Gottes. Somit würde sich Gottes Verheißung (Nachkomme Abrahams) dann auf den menschlichen Jesus beschränken. In einer gewissen Weise wird Jesus hierbei zerteilt in eine göttliche und eine menschliche Hälfte, was nicht nur hier Anwendung findet, sondern die sogenannte Zwei-Naturen-Lehre ausmacht.

Jesus sagte in Joh 6, dass er aus dem Himmel herabgekommen sei (V.38). Wie war das, was berichtet uns die Bibel darüber? Beschreibt sie irgendwie die Verwandlung eines zuvor himmlischen Wesens in einen Menschen? Sie berichtet uns nicht, dass Jesus (wie sonst einige Engel) plötzlich auf der Erde erschien, sondern sie berichtet uns, dass Gott ihn durch seinen Geist in Maria zeugte, sie daraufhin schwanger wurde und den Herrn Jesus gebar. Ich glaube, niemand würde sagen, dass dies ein buchstäbliches "aus dem Himmel kommen" sei, aber einen anderen Bericht sucht man in der gesamten Heiligen Schrift vergeblich. Genauso vergeblich sucht man nach "Menschwerdung". Wenn Jesus Christus Mensch geworden ist, dann muss er zuvor etwas anderes gewesen sein - aber was? Weder Menschwerdung noch ein anderer "Seins-Zustand" Jesu davor kennt die Bibel. Was sie aber deutlich und oft lehrt, ist die Verheißung, dass ein Nachkomme Evas, Abrahams, Davids und anderer zu seiner Zeit kommen sollte. Dass das geschah und auch wie es geschah, berichtet die Bibel wiederum sehr klar. Allerdings glauben die Gläubigen das alles im Grunde nur sehr eingeschränkt. Die vorherrschende Überzeugung ist vielmehr, dass Jesus nicht nur konkret verheißen war, sondern konkret existierte, eben "prä-existierte". Wo aber findet sich in der Bibel eine Beschreibung, die dem "aus dem Himmel herab gekommen" in Joh 6 eher entspricht?

Phil 2,5-11 könnte man durchaus so verstehen, zumal jene Passage m.E. am nächsten an eine "Menschwerdung" herankommt. Aber eine wirklich klare Aussage dazu ist es nicht. Im oben verlinkten Artikel gehe ich am Schluss kurz darauf ein.

Der Grund, warum ich persönlich Jesu Worte: "aus dem Himmel herab gekommen" eher nicht wörtlich nehme, sondern in einem übertragenen Sinn, findet sich im selben Kapitel in Johannes 6. Dort sagte Jesus:

Joh 6,51 Ich bin das lebendige Brot, das aus dem Himmel herab gekommen ist; wenn jemand von diesem Brot isst, wird er leben in Ewigkeit. Das Brot aber, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt.

Joh 6,53-59 Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht das Fleisch des Sohnes des Menschen esst und sein Blut trinkt, so habt ihr kein Leben in euch selbst. 54 Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben, und ich werde ihn auferwecken am letzten Tag; 55 denn mein Fleisch ist wahre Speise, und mein Blut ist wahrer Trank. 56 Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm. 57 Wie der lebendige Vater mich gesandt hat, und ich lebe um des Vaters willen, so auch, wer mich isst, der wird auch leben um meinetwillen. 58 Dies ist das Brot, das aus dem Himmel herab gekommen ist. Nicht wie die Väter aßen und starben; wer dieses Brot isst, wird leben in Ewigkeit. 59 Dies sprach er, als er in der Synagoge zu Kapernaum lehrte.

Das alles ist offensichtlich nicht buchstäblich / wörtlich zu verstehen.

Was war nun Jesus vor seiner "Menschwerdung" - wenn man denn diesen Begriff gebrauchen will - ?

Meine Antwort: Davor war er von Gott verheißen, vorgesehen, geplant. Und als die Zeit erfüllt war. sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau ... (Gal 4,4)